Eine neue deutsche Geschichte der Literatur Polens. Externe Perspektiven und Nationalliteratur.

Polnische Romantik als Modell einer neuen polnischen Literaturgeschichte. Ein Pilotprojekt der Zürcher Forschungsgruppe

Mitarbeiter: Prof. Dr. German Ritz (Leitung), PD Dr Thomas Grob und Dr. Alfred Gall

Laufzeit: 1.10.2003-30.9.2006

Das in seiner Anlage international und interdisziplinär angelegte Forschungsprojekt zur Neuschreibung der polnischen Literaturgeschichte wird in den nächsten drei Jahren als Pilotprojekt zur Romantik von der Zürcher Forschungsgruppe bearbeit.

Die Wahl der ‚Romantik‘ als Fokus der Profilierung ist nahliegend. Die Romantik stellt im kulturellen und literarischen Selbstverständnis Polens unbestritten den wichtigsten Ausgangs- und Bezugpunkt dar und verlangt genuin ein literaturhistorisches Arbeiten über die Epochengrenzen hinaus. Besondere Beachtung erhält hier die neue Modellierung von Epochengrenzen und Entwicklungslinien, insbesondere die Beziehung zur Moderne, zur Aufklärung und zur altpolnischen sarmatischen Kultur. Gerade diese Periode eignet sich zur Erprobung von kulturellen und interkulturellen Fragestellungen, wie sie auch in anderen Epochen in Anschlag gebracht werden könnten. Hier können Phänomene verschiedenster Art beschrieben werden, die in späteren Perioden wiederum wirksam werden.

Die gut ausgebildete Romantikforschung gehört zur kanonischen Forschung in Polen. Gerade unter einem Blick ‚von aussen‘ werden hier dennoch produktive Akzentverschiebungen möglich. Ging die bisherige Romantikforschung schwergewichtig von Mickiewicz und der litauischen Tradition aus, soll hier beispielsweise die ukrainische Seite betont werden; J. Słowacki wird als Dreh- und Angelpunkt in verschiedenen der unten angeführten Arbeitsfelder fungieren. Damit ist auch eine stärkere Gewichtung der Spätromantik und ihrer Verbindung zur Moderne vorgegeben. Die Orientierung an (gegenüber dem Kanon) ‚alternativen‘ Phänomenen impliziert, dass auch wenig beachtetes Material bearbeitet werden soll.

Zu den bereits in Vorbereitung befindlichen Arbeitsbereichen, in denen die skizzierten Zugänge ausgearbeitet werden sollen, gehören insbesondere die folgenden:

1. Nation building und social engineering: Literatur als Medium nationaler Selbstbeschreibung. Die Genese der modernen Nation und die Reflexion dieses sozialen Prozesses spielen für die Literatur Polens eine enorme Rolle. Der Vorgang des nation building wird in der Literatur verhandelt und wirkt bis in die Gegenwart nach. Die Begriffe nation building und social engineering beziehen sich auf den Prozess der kulturellen und sozialen Selbstbeschreibung, der einerseits auf die altpolnische Kultur rekurriert und andererseits bis in die Gegenwart wirksame Modelle nationaler polnischer Identität erzeugt. In diesen Zusammenhang gehört die Rezeption westeuropäischer Philosophie (z.B. Rousseau, Herder, Kant, Schelling, Hegel) ebenso wie die Ausformung erster slavophiler Geschichtstheorien.

2. Imaginationskonzepte und ihre Realisierung in literarischer Phantastik. Diese Fragestellung widmet sich der Geschichte romantischer Imaginationskonzepte zwischen programmatischen Äusserungen einerseits, literarischen Realisierungen in phantastischen oder phantasmatischen Bildlichkeiten andererseits. Sie nimmt unter der konkretisierten Fragestellung sentimentalistisches Erbe in der jungen Romantik in den Blick, widmet sich deren programmatischen Schriften, der Rolle einzelner Gattungen in der Konstitution der Romantik und ihrer weiteren Entwicklung (Ballade, frühe Poeme, Roman), ausgewählten Bildlichkeiten im Kern der ‚grossen‘ romantischen Trexte der Emigration oder, im europäischen Kontext, den spätromantischen Verschiebungen in der Konzeption der dichterischen Imagination.

3. Mythos zwischen Literatur und Nation. Die Langlebigkeit der polnischen Romantik liegt in ihrer Fähigkeit zu mythischen Entwürfen. Neben den klassischen Widerstandsmythen interessieren hier besonders diejenigen Entwürfe, die – wie bei Słowacki – weniger den romantischen Text transformieren als den Mythos selbst, sowie die sich der nationalen Vereinnahmung entziehenden ukrainischen Mythen, die den polnisch-litauischen entgegentreten und die Kosakenfigur ins Zentrum stellen. In den ukrainischen Mythen trifft die Romantik auf europäische romantische Modelle; Text und Bild treten dabei in einen produktiven Dialog (Ekphrasis).

4. Dichterbild und Selbststilisierung im Horizont romantischer Helden- und Verhaltensmuster. Die romantischen Ich-Entwürfe sollen über mehrere kulturelle, historische und gattungsspezifische Grenzen hinweg untersucht werden: vor und nach dem Aufstand, Emigration / Inland, Männer / Frauen, öffentlich / privat. Die autobiographischen Texte sollen neben den kanonischen lyrischen Texten besonders berücksichtigt werden (das Ich als Teil des Familien- und Geschlechterdramas bei Krasiński und Słowacki).

5. Diskurse des Eigenen und Fremden in ihren Verräumlichungen. In dieser Perspektive sollen die Strukturen kultureller Raumbestimmungen, wie sie auch literarisch wirksam werden, in synchrone und diachrone Zusammenhänge gestellt werden. Dazu gehören die Semantisierungen (ehemals) eigener Regionen (Litauen, Ukraine), die Kulturbegegnung mit dem kulturellen Anderen (Orient), die Selbstposition gegenüber dem Westen, die Frage von Exil und Nicht-Exil, aber auch die Rolle ‚abstrakter‘ Raumkonstruktionen wie die betont vertikale Organisierung literarischer Räume (Alpen). Eine besondere Bedeutung erhalten hier auch literarisierte Reisetexte.

6. Literatur und religiöse Kultur: Der polnische Messianismus. In der Romantik zeichnen sich in Polen mannigfaltige Neuausrichtungen von religiöser Kultur im Spannungsfeld zwischen Häresie und Katholizismus ab. Die Verzahnung von Literatur und religiöser Kultur kulminiert im romantischen Messianismus, der in verschiedenen Variationen bis ins 20. Jahrhundert wirksam blieb und seinerseits auf die Barockzeit zurückweist. Die messianistischen Ideen und deren Gegenwärtigkeit in der Literatur sind ein äusserst wichtiges Merkmal Polens, das komparatistisch in einem Blick auf andere Länder (z. B. Russland) erfasst werden muss.

7. Spät- und Postromantik. Zu den Leitfragen gehören hier die lange Phase der Spätromantik und ihre unterschiedliche neue Ausrichtung zwischen Moderne und Parnass und die Spätromantik als Brücke zur polnischen Moderne nach 1894. Die bisherige Fokussierung auf Norwid soll über Alternativen wie Faleński oder Asnyk differenziert werden. Thematisiert werden soll auch die für die Konstitution der polnischen Prosa so wichtige spezifische Erzählweise der gawęda; auch hier verzahnen sich politische Thematik und literarische Praxis.

8. Querschnitte. Die stark diachrone Ausrichtung soll systematisch durch synchrone Querschnitte ergänzt werden, in denen synoptisch verschiedene kulturhistorische Felder beleuchtet werden. Die gewählten Jahre folgen der Geschichte und dem Zufall der Zahlenreihe: 1812, 1822, 1832, 1842, 1852, 1862. In unterschiedlicher Intensität (wobei dem Impuls von 1822 sicher besondere Bedeutung zukommt) sollen hier in kultur- und diskurshistorischer Perspektive Felder wie das Verhältnis von Literatur und Ästhtetik zur Politik, politische oder philosophische Ideologeme und Einflüsse, die Rolle gewisser Institutionen, die Grenzen zwischen Literatur und Wissenschaft oder Systeme der literarischen Kommunikation (Buchmarkt, Leserschaft usw.) zur Darstellung kommen.

KONFERENZEN

Das Forschungsprojekt soll durch zwei Konferenzen ergänzt werden, zu denen zu vom Projekt vorgegebenen Einzelthemen, die als wichtige Ergänzungen erachtet werden, ausgewiesene Forscher eingeladen werden. Eine erste, kleinere, richtet sich insbesondere an Spezialisten aus dem Bereich der Geschichte und Kulturgeschichte (Februar-März 2005), sie soll zusammen mit Herrn Dr. A. Lawaty, Direktor des Instituts für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa (Lüneburg), organisiert werden. Eine zweite, grössere und abschliessende, soll im Juni 2006 zusammen mit dem Literaturinstitut der Akademie der Wissenschaften in Warschau vorbereitet werden; sie wird sich primär an polonistische und komparatistische Literaturwissenschaftler richten.

Zürich, den 16.12.03