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Seminar für Griechische und Lateinische Philologie

V. Einzelne Sprachlandschaften des Lateinischen in der ersten Hälfte des Mittelalters

Einleitendes

Groß ist seit langem das Interesse an der Frage nach regionalen Ausprägungen des überlieferten Schriftlateins im Mittelalter. Dahinter stehen jeweils einzelne sprachliche Beobachtungen. Doch sind hier manche vermeintlichen Erkenntnisse aufgrund von intuitiven Urteilen, kurz geschlossenen Verbindungen und von einer oft viel zu schmalen Materialgrundlage zustandegekommen. Durch behutsame, allseitig abgestützte Arbeit würde sich gewiß manches konkrete Ergebnis erzielen lassen. Doch ist es nicht möglich, die Latinität der einzelnen Regionen des frühmittelalterlichen Europa durch Abgrenzung der Spracherscheinungen hinreichend zu beschreiben. Auf dem hier zur Verfügung stehenden knappen Raum können die etwaigen Besonderheiten der einzelnen Regionen ohnehin nicht erörtert werden. So mögen denn die einzelnen Sprachlandschaften lediglich durch einige kultur- und sprachsoziologische Bemerkungen gekennzeichnet werden:

Gallien

Im nördlichen Gallien ist die Volkssprache früher und weit entschiedener ihrer Wege gegangen als anderswo, und das Widerspiel zwischen Latein und Volkssprache trat hier so klar und früh hervor wie nirgends sonst. Andererseits hatte sich hier mit dem vorübergehend geeinten, recht lebenskräftigen fränkischen Reich eine starke politische Macht - im Rahmen einer viel umfassenderen Reform des gesamten geistigen Lebens - der Aufgabe angenommen, die hochsprachlichen Normen des Lateinischen wieder herzustellen. Zufolge dieser Aussonderung bildeten sich hier bereits im Hochmittelalter zwei einheimische Hochsprachen aus: das Altfranzösische im Norden und das Altprovenzalische im Süden.

Das Latein der Merowingerzeit galt - und gilt wohl heute noch manchenorts - für das Schlimmstmögliche an sprachlichem Zerfall. Immerhin war in der späten Kaiserzeit gerade in Gallien die Pflege der Sprache und Literatur hochgehalten worden. Die daher rührenden Vorbilder suchte man in allerdings oft recht linkisch-künstlicher Weise nachzuahmen. Zwar bilden sich die vulgärlateinisch-(vor)romanischen Sprachentwicklungen reichlich ab, aber nicht immer unmittelbar, sondern oft auch gegenläufig, durch das 'hyperkorrekte' Rückgängigmachen eines vermeintlichen Vulgarismus am falschen Orte. Oft wurde auch hergebrachtes, nicht mehr bewältigtes Formelgut in falscher Weise eingebaut. Jedenfalls suchte man sich nicht der gesprochenen Volkssprache anzubequemen, sondern, von ihr sich absetzend, möglichst gutes Latein zu schreiben.

Hinzu kommt nun noch, zunächst vor allem im Norden, der Einfluß einer ganz und gar andern Sprache, nämlich des Fränkischen. Durch die Lex Salica, durch die Herrscherurkunden und Formelsammlungen wurde eine große Zahl von germanischen Termini aus dem Rechts- und Sozialbereich heimisch: Restausdrücke, die sich im Latinisierungs- und Verschriftungsprozeß der fränkischen Rechtssprache behauptet hatten. Manche von ihnen leben im Galloromanischen, teils auch in andern Sprachen weiter, so etwa bannus (ursprünglich: 'Gebot / Verbot'). Dies geschah unter Beteiligung, Vermittlung und allenfalls späterer Wiederaufnahme seitens des Lateinischen.

Seit der Mitte des 8. Jahrhunderts wurden sprachliche Reformen vorgenommen, die etwa in den Herrscherurkunden zutagetreten. Die etwas später unter Karl dem Großen hauptsächlich von Alcuin an die Hand genommene Erneuerung zeitigte dann freilich viel tiefergreifenden Folgen.

Italien

Italien zeigt in mehrfacher Hinsicht mehr Beharrlichkeit. Unter den Ostgoten kam es zu einer eigentlichen Nachblüte der Kultur: Man denke an Boethius und Cassiodor oder an die sprachlich-stilistisch hochstehenden Schriften und Briefe Gregors des Großen. Allerdings hatte die Landnahme der Langobarden (ab 568) die Bildungseinrichtungen verfallen lassen, und das 7. Jahrhundert zeigt ein deutlich verändertes Gesicht. Immerhin nehmen diejenigen Gebiete, die griechischen Einflüssen offenstanden, eine gewisse Sonderstellung ein. Mit der irischen Kostergründung Bobbio wurde 612 ein kultureller Stützpunkt geschaffen. Auch sonst machte sich in Oberitalien später da und dort wieder ein gewisser Aufschwung bemerkbar. Dies war der Nährboden, auf welchem Karl dem Großen für sein Erneuerungswerk Verbündete erwuchsen wie Paulus Diaconus und Paulinus von Aquileia.

In Italien bewegte sich die gesprochene Sprache weniger rasch und weniger deutlich vom Schriftlatein weg als in Gallien. Immerhin änderte sich auch hier die Aussprache in manchem, was Unsicherheiten in der Morphologie mit sich brachte. Doch eine einschneidende Rückwendung auf die sprachlichen Grundlagen der Antike schien hier nicht dringend. Des Unterschiedes zwischen Latein und Volgare wurde man sich hier erst viel später bewußt. Urkunden und gewisse andere Texte zeigen noch auf lange hinaus einen sprachlich wenig gepflegten Charakter. Gelehrte Männer gleich Gunzo von Novara (10. Jahrhundert) waren zumindest im mündlichen Gebrauch des Lateinischen unsicher. Als Maßstäbe setzende Instanz für gepflegte Latinität kamen seit der Kirchenreform im 11. Jahrhundert die Römische Kurie und die ihr verbundenen Kreise (etwa Petrus Damiani) zur Geltung. Hierbei knüpfte man bewußt an den Sprachstil der christlichen Spätantike, etwa Leo den Großen, an.

Durch das Langobardische wurde das hiesige Latein weit weniger stark geprägt als dasjenige Galliens durch das Fränkische. Die Entlehnungen aus dieser Sprache beschränken sich auf eine verhältnismäßig geringe Zahl von Termini (etwa die Standesbegriffe arimannus und aldio oder die Amtsbezeichnung gastaldio). Sprachliche Besonderheiten, die sich ganz streng auf Italien beschränken, gibt es kaum, doch gewisse Sprachzüge kommen hier häufiger - und vor allem: kommen hier länger - vor als dort, wo die karolingische Erneuerung regelnd eingegriffen hatte.

Iberische Halbinsel

Auf der Iberischen Halbinsel, auf welcher das Lateinische schon seit langem heimisch war, setzte sich das kaiserzeitliche Gebrauchslatein ohne ernstere Störungen in das frühe Mittelalter hinein fort. Unter dem Schutz der westgotischen Könige kam es zu einer Nachblüte der spätantiken Kultur, geprägt von einer grammatisch-rhetorischen Tradition. Zufolge des Sieges der Araber über die Westgoten im Jahre 711 begann jedoch für den weitaus größten Teil Spaniens für Jahrhunderte die Herrschaft der Mauren: die mozarabische Zeit. Obwohl die neuen Herrscher diesbezüglich duldsam waren, kam die bisher kontinuierlich verlaufene Entwicklung ins Stocken. Der Zugang zu den Vorbildern und Normen wurde mehr und mehr Sache gelehrter Bemühung. Die literarische Produktivität erlahmte zufolge einer gewissen Entkräftung und zufolge der Vorrangstellung der arabischen Kultur, welche hier einströmte.

In der frühmittelalterlichen Übergangszeit, die hier etwa von 600 bis 800 dauerte, waren im größeren Teil der Iberischen Halbinsel die Unterschiede zwischen Latein und Volkssprache noch nicht allzu bedeutend. Doch im Nordosten, in der Spanischen Mark (im Bereich des Katalanischen) traten die beiden viel entschiedener auseinander. Die Lage hier läßt sich mit derjenigen in Gallien, die Lage auf dem Rest der Halbinsel mit derjenigen in Italien vergleichen. Dies äußert sich auch in den lateinischen Texten, zumal in den Urkunden. Überhaupt gibt es in Spanien eine große Kluft zwischen der Urkundensprache, die sich den volksläufigen Entwicklungen offenhielt, und einer gelehrten Buchsprache, in welcher in etwas künstlich-verkrampfter Weise ältere Traditionen aufrechterhalten wurden. Mit Einbezug der sich verhältnismäßig spät verselbständigenden Volkssprache gab es hier im Hochmittelalter drei deutlich getrennte Sprachformen: eine gepflegte lateinische Sprache - die im Norden im 11. Jahrhundert einen neuen Aufschwung nahm -, ein volksnahes Gebrauchslatein (latinum circa romançum) und schließlich die iberoromanischen Dialekte.

England

Das zunächst keltische Britannien ist die einzige Landschaft Europas, in welcher die lateinische Sprache nacheinander in zwei voneinander völlig getrennten Vorgängen eingeführt wurde. Im Gefolge der Eroberung durch römische Truppen (43 n. Chr.) wurde der Süden Britanniens zu einer römischen Provinz, und die städtischen Siedlungen wurden recht weitgehend romanisiert. Doch die römische Herrschaft vermochte sich hier nicht lange zu halten, und seit dem Anfang des 5. Jahrhunderts war die Insel sich selber überlassen. Zudem strömten nunmehr germanische Verbände ein, von denen diejenigen im Süden mit dem Namen 'Sachsen' belegt wurden, während im Norden die Angeln siedelten. Das römische Kultursuperstrat im Süden Britanniens wurde hinweggespült. Dieser gehört damit, wie Nordafrika, zu den Gebieten der 'verlorenen Romania'.

Die Missionierung und Christianisierung Englands zu Ende des 6. und im Laufe des 7. Jahrhunderts stellt, auch was die lateinische Sprache betrifft, einen vollständigen Neueinsatz dar. Im Süden faßte die Missionierung Fuß, die unter Papst Gregor dem Großen 596 durch die Aussendung Augustins (von Canterbury) eingeleitet wurde. Im Norden Englands wirkten irische Missionare. Ganz allgemein war die Latinität, die auf diesen Wegen hier erneut Fuß faßte, die Sprache von Schrift und Buch, von Schule und Kirche. Dies ist mit verantwortlich für den Umstand, daß im angelsächsischen England Latein und Volkssprache stärker getrennt waren als auf dem Kontinent. Die beiden Sprachen liefen, gesondert nach verschiedenen Sphären, nebeneinander her, ohne sich stark zu beeinflussen. Im Gegensatz zu den Verhältnissen im Frankenreich wurden vom Lateinischen kaum angelsächsische Wörter entlehnt. Die Latinität Englands zeigt auf Grund ihrer Entstehensbedingungen kaum auffällige Züge: sie empfahl sich daher als Modell einer wiederzugewinnenden, von den romanischen Idiomen gesonderten Schriftsprache auf dem Kontinent.

Die normannische Eroberung vom Jahre 1066 führte eine grundlegend neue Situation herbei: Die nunmehr tonangebende Oberschicht bediente sich des Anglonormannischen, und das Lateinische wurde gewissermaßen zur Mittlerin zwischen der angelsächsischen und dieser neuen Zivilisation. Nunmehr begannen sich in der Rechts- und Verwaltungssprache Lateinisch und Volkssprachliches in stärkster Weise zu durchdringen. In den lateinischen Texten traten latinisierte angelsächsische Ausdrücke wie auch anglonormannische Entlehnungen (bzw. Rückentlehnungen) auf.

Irland

Irland war außerhalb des römischen Reichsgebietes geblieben, doch fand das Lateinische hier noch in spätantiker Zeit Eingang durch die Christianisierung, die im 5. Jahrhundert vor allem durch Patrick erfolgte. Die Stützpunkte der Kirchenorganisation waren große Klöster; Städte gab es hier nicht. Der Gebrauch des Lateinischen kam den Iren vom Kontinent her zu und diente nur der kirchlichen Lehre und Praxis. In Irland wurden manche der damaligen Sprachzustände beibehalten, weil dort das Lateinische dem Einfluß der allmählich davon abdriftenden romanischen Volkssprachen entzogen war. (So blieb etwa in ce und ci dem c der Lautwert k erhalten.) Auch im Vergleich mit den germanischen Sprachen des Kontinents sind die wechselseitigen Einflüsse zwischen Latein und Volkssprache hier verhältnismäßig gering. Das Irische war eine hoch entwickelte Literatursprache, und so wie nirgends sonst spielte sich das geistig-literarische Leben in einer ausgeprägten Wettbewerbssituation ab. Damit war hier schon früh die Konstellation der Diglossie vorweggenommen, welche etwas später im Mittelalter überall zur Geltung gelangte.

Der Zugriff auf das Erbe der Antike war hier wohlumgrenzt, entschieden - und war mit großen Anstrengungen verbunden. Dem Stil der irischen Gelehrsamkeit haftet der Charakter des Künstlichen - mitunter: des Verstiegenen - an. Eine besondere Ausformung sind die sogenannten Hisperica famina und verwandte Texte, welche im Laufe des Frühmittelalters im keltischen Bereich geschaffen worden sind. Die Iren beschäftigten sich intensiv auch mit Griechischem und Hebräischem, und unter gewissen Aspekten war ihr Umgang mit dem Lateinischen dem ähnlich: Vielfach wurde hier kein Unterschied gemacht zwischen entlegenen und (anderweitig) geläufigen Ausdrücken: die einen wie die andern mußte man sich hier mühevoll zusammensuchen. Ein Gefühl für die stilistische Wertigkeit einzelner Sprachzüge - oder für Hemmungen und Widerstände der Sprachgemeinschaft gegen zu kühne Wortbildungen oder -verwendungen - konnte sich kaum entwickeln.

Zwar behielten die Iren, auch in ihrer Behandlung des Lateinischen, in manchem ihren ganz spezifischen Charakter bei, doch manche von ihnen wirkten in der Folge auswärts. Genannt sei die Missionsarbeit im Norden Englands, die Wirksamkeit Columbans (gestorben 615) in Gallien und Norditalien, sodann die Tätigkeit hoch begabter Iren im 9. Jahrhundert an Zentren wie Auxerre, Laon und Lüttich. Auf dem Kontinent erst haben Iren ihre Höchstleistungen vollbracht. Doch auch die sicher aus Irland selber stammenden Texte sind heute großenteils in kontinentalen Handschriften überliefert. Das macht eine zuverlässige Beurteilung der Frage so schwierig, welche auffälligen Sprachzüge darin wirklich für typisch gelten können.

Deutschland

Das Gebiet des nachmaligen Deutschland hatte in den ersten Jahrhunderten des Mittelalters kaum Eigengewicht. Einzelne Gebiete, vor allem die Rheinlande, hatten Anteil an der Romanisierung genommen, was sich in einem beträchtlichen Fundus von Kulturlehnwörtern niedergeschlagen hat. Nach den Turbulenzen der Völkerwanderungszeit wurde dieser Raum hauptsächlich zufolge der Eingliederung einzelner Gebiete in den fränkischen Herrschaftsbereich allmählich der Latinität erschlossen. In den Zentralalpen und ihrem nördlichen Vorland gab es freilich ansehnliche Residuen einer romanischsprachigen Bevölkerung, so am Bodensee noch im 7., in der Gegend von Salzburg noch im 8. Jahrhundert - von den südlich anschließenden voralpinen und alpinen Gebieten nicht zu reden, die zum Teil noch heute der Romania angehören. Auch bestand ein reger Kulturkontakt mit den südlichen Alpentälern. Arbeo, nachmals Bischof von Freising (gestorben 783), Angehöriger einer bairischen Adelsfamilie, stammt wahrscheinlich aus der Gegend von Meran. Bedeutsam war ferner die angelsächsische Mission unter Bonifatius (gestorben 754), zu deren wichtigsten Stützpunkten das Bistum Mainz und das Kloster Fulda gehörten. Schrittweise faßte das Christentum und die Latinität dann auch bei den Sachsen Fuß. Im großen und ganzen wurde in diesem Raum ein verhältnismäßig reines Schriftlatein heimisch, wie es sich aus der angelsächsischen Sprachpraxis und aus der karolingischen Bildungsreform ergab. In dem ostfränkischen, später deutschen Reich bildete sich eine hohe sprachliche und literarische Kultur aus, welche in der Ottonenzeit beispielgebend war, bis dann die Führungsrolle an Frankreich überging.

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