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Seminar für Griechische und Lateinische Philologie

VI. Der Fortgang

Die Ausdehnung des Sprachraumes in der zweiten Hälfte des Mittelalters

Der geographische Raum, in welchem das Lateinische benutzt wurde, dehnte sich gegen die Mitte und in der zweiten Hälfte des mittelalterlichen Jahrtausends nicht unbeträchtlich aus, dies nach dem Norden wie auch nach dem europäischen Osten und Südosten hin. (Außer Betracht bleiben darf hier die Verpflanzung europäischer Latein-Anwendung in die Kreuzfahrerstaaten des Vorderen Orients.) Die christliche Missionierung der genannten Gegenden war mit der Gründung von Bistümern und der Errichtung von Klöstern verbunden.

Bereits aus chronologischen Gründen ergibt sich, daß der nun allmählich christianisierte Norden und Osten Europas von Anfang an mit dem Lateinischen in dessen karolingisch-nachkarolingischer Gestalt in Berührung kam. Auch waren die Ausgangspunkte dieser Missionstätigkeit in aller Regel nicht dem Kerngebiet der Romania zugehörig, sondern Regionen, in denen ein gereinigtes Schriftlatein die Regel war: Für den Norden war das Erzbistum Hamburg-Bremen sowie das angelsächsische England die Basis, für den slawischen Osten wie auch für Ungarn das ottonische und nachottonische Deutschland. Im kroatisch-dalmatinischen Raum allerdings macht sich die Nähe Italiens und der hier übliche Umgang mit dem Lateinischen bemerkbar. Im allgemeinen haben sich im Norden und Osten die Wirkungen der jeweiligen Volkssprachen in recht engen Grenzen gehalten. Abgesehen von Island gilt für die meisten Gebiete, daß die einheimische Volkssprache verhältnismäßig spät zur Schriftfähigkeit aufrückte. Das Lateinische, das zwar erst spät eingedrungen war, besaß hier noch auf lange Zeit hinaus die Geltung jener Sprache, die für anspruchsvollere geistige Kommunikation benutzt wurde, zum Teil - so in dem Vielvölkerstaat Ungarn auch aus praktischen Gründen - bis weit in die Neuzeit hinein.

In einer Zeit, in welcher in Mittel- und Westeuropa die literarische Produktion in unübersehbarer Fülle, in voller Entwicklung und in großem Artenreichtum sich entfaltete, setzte im Norden und im Osten das lateinische Schrifttum erst zaghaft ein. Und manche dieser Texte waren von vorwiegend regionaler Bedeutung. Das gilt, von den Urkunden und dem sonstigen Geschäftsschriftgut abgesehen, etwa für die hagiographischen und liturgischen Texte, die den großen Heiligen dieser Völker gewidmet sind, es gilt auch für manche Geschichtswerke einer örtlichen Kirche, eines Klosters. Doch heben sich einzelne große Leistungen allgemeineren Interesses davon ab, so etwa die Gesta Danorum des Saxo Grammaticus (gestorben um 1220), ein kunstvolles, von klassizistischer Stilhaltung zeugendes Geschichtswerk mit vielen Gedichteinlagen in ausgesuchten klassischen Versmaßen. Als zweites Beispiel seien die Offenbarungen der heiligen Birgitta von Schweden erwähnt. Das Textgut aus diesen peripheren Zonen Europas stammt ganz überwiegend aus einer Zeit, die gekennzeichnet ist durch regen Austausch von Einzelzügen des Lateins und eine gesteigerte Mobilität der Träger dieser Sprache. Hiervon soll im folgenden die Rede sein.

Zum überregionalen Charakter des Lateinischen in der zweiten Hälfte des Mittelalters

Die karolingische Bildungsreform hatte in weitestem Umfange ein Gefüge an schriftsprachlichen Normen wiederhergestellt. Überall, wo ihre Wirkungen hinreichten, hatte dies einen gewissen Ausgleich zur Folge. Wohl mochten in Urkunden (mit ihren vielen Termini aus dem Alltagsleben) oder in anspruchslosen Gelegenheitstexten wenig gebildeter Verfasser sich auch im fortgeschrittenen Mittelalter regionale Ausprägungen des Lateinischen äußern, doch sorgten starke Kräfte für Ausgleich. Im Hochmittelalter war in vermehrtem Maße ein Rückbezug auf die klassische Antike am Werke, dies zufolge einer vor allem vom Humanismus des 12. Jahrhunderts in Frankreich ausgehenden Haltung. Dazu gehörte die Imitatio der großen Vorbilder der Antike, seien es Vergil und Ovid in der metrischen Dichtung, seien es Cicero und andere Klassiker in der Prosa. Außerdem galt weiterhin, daß die im Mittelalter je und je wirksame Ausrichtung nach biblischen und patristischen Stilmustern den sprachlichen Äußerungen der verschiedenen Gegenden Europas unter sich zu einer gewissen Einheitlichkeit verhalf. Diese Stilisierung nach antiken Mustern brachte nun aber ganz unterschiedliche Wirkungen hervor: in manchem Falle die Herausbildung eines persönlichen Stils in lebendiger Auseinandersetzung mit großen Vorbildern, vielenorts aber auch nur eine gewisse einförmige Handhabung der Sprache, die in rein handwerklichen Dingen vielleicht tadellos sein mochte, aber an Profil verloren hatte.

Vereinheitlichend wirkte nun aber insbesondere auch die wissenschaftliche Fachsprache, die sich im Hoch- und Spätmittelalter herausbildete, die scholastische Latinität. Die Elemente dieses Instrumentariums gingen zwar im wesentlichen auf das antike Latein zurück, doch es entwickelte sich nunmehr ein sprachlicher Duktus, welcher sich dem Geiste, der hinter dieser Sprache stand, entfremdete, dafür jedoch praktische Vorteile aufwies. Dies gilt vor allem im Hinblick auf die mündliche - oder der Mündlichkeit nahestehende schriftliche - Erörterung komplizierter Sachverhalte. Wenn später die Humanisten das nachantike Latein insgesamt tadelten, meinten sie insbesondere diese ihnen fratzenartig entgegeblickende Form der Latinität.

Latein war einerseits Mittel zur wechselseitigen kulturellen Durchdringung der verschiedenen Regionen und Nationen Europas, war jedoch auch selber Gegenstand dieser Durchdringung, und dies im Spätmittelalter in wesentlich höherem Grade als früher: Die zentrale päpstliche Verwaltungstätigkeit wurde immer stärker ausgestaltet, was einen ungeheuren Schriftwechsel nach sich zog. Auch die neuen Bettelorden und Ritterorden, welche international organisiert waren, trugen dazu bei. Doch es herrschte auch eine recht große Mobilität der Personen selber. Von den eben besprochenen Sphären abgesehen, betrifft dies vor allem den Lehrbetrieb, welcher zunehmend internationale Züge annahm. An Universitäten wie Paris oder Bologna strömte akademische Jugend aus ganz Europa zusammen, und natürlich konnte es nicht ausbleiben, daß die dortigen Gepflogenheiten im Umgang mit dem Latein nach allen Seiten hin ausstrahlten und sich weiter verbreiteten. Zu diesen Übernahmen im akademischen Bereich kam noch die Wirkung der kulturell-zivilisatorischen Überlegenheit Frankreichs im Hinblick auf Ausdrücke etwa der Mode oder der Ausstattung.

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