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Jahrespreis 2006 der Vetsuisse-Fakultät

Daniela Saxer

Die aktuelle Debatte um die Zukunft der Wissenschaft kreist zentral um die Begriffe der Trans- bzw. Interdisziplinarität. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verfestigte sich eine disziplinäre Matrix der Wissenschaft, die sich heute in Frage gestellt sieht. In dieser Situation sieht sich auch die Geschichtswissenschaft mit neuen Herausforderungen konfrontiert, die eine verstärkte Reflexion auf die historischen Grundlagen des Faches nötig machen. Neuere wissenschaftsgeschichtliche Analysen konzentrierten sich bisher allerdings stark auf die Naturwissenschaften, während die Geisteswissenschaften vernachlässigt wurden. Soweit Studien zur historischen Wissenschaft vorliegen, fokussieren sie auf theoretische Positionen und Interpretationsansätze, auf Geschichtsbilder und Institutionen. Die Studie setzt demgegenüber bei den persönlichen Netzwerken und der Forschungspraxis von Historikern an. Sie leistet einen Beitrag zur Erforschung der Wissenschaftskultur der akademischen Geschichtsforschung im deutschsprachigen Wissenschaftssystem im Zeitraum zwischen 1840 und dem Ersten Weltkrieg. Anhand der zwei Forschungsstandorte Wien und Zürich und basierend auf der dichten Auswertung von Archivmaterial und gedruckten Schriften werden unterschiedliche Dimensionen dieser Praxis in der Phase einer disziplinären Verfestigung der Geschichtswissenschaft sichtbar gemacht. Die Verfasserin untersucht zunächst, wie sich die Inhalte und Vermittlungsweisen von historischem Forschungswissen an Hochschulen wandelten, wie Historiker in Forschungsorganisationen und familiären Netzwerken zu Quellenforschern sozialisiert wurden und welche emotionale Haltungen gegenüber dem Fach und den Quellen sie sich dabei aneigneten. Darüber hinaus analysiert sie den Wandel der Forschungsorganisation und -verfahren. Es wird gezeigt, wie sich die bis heute grundlegenden Techniken der Registrierung, Edition, Regestierung und fotografischen Repräsentation historischer Dokumente entwickelten und wie dadurch die «ächte Quelle» in eine abstrakte Einheit, in ein epistemisches Objekt transformiert wurde. Die Untersuchung zeigt auf, dass neue arbeitsteilige Verfahren und Erfassungsmethoden in gross angelegten Editions- und Forschungsprojekten - so u. a. das Schweizerische Urkundenregister, die Monumenta graphica und die Regesta Imperii - zu umfassenden Mobilisierungsprozessen historischen Materials führten. Konkrete, lokalisierte historische Objekte wurden aus ihrem früheren Kontext herausgelöst, beweglich gemacht und zu neuen Einheiten aggregiert. Dadurch gingen zahlreiche örtlich und sozial begrenzte Sinndimensionen der erfassten Materialien verloren. Im Zug dieser Entwicklung erhöhte sich der Abstraktionsgrad des Quellenkonzepts soweit, dass nun alle möglichen Hinterlassenschaften der Vergangenheit als strukturell gleichartig verstanden wurden und sich neue Objektivierungseffekte ergaben, bis hin zum Eindruck, die Quellen sprächen gleichsam von selbst. Die Ausweitung und Systematisierung dieses «Quellenblicks» war von zahlreichen konfliktgeladenen sozialen Aushandlungsprozessen begleitet. Mit der Hilfe wissenschaftlicher Expertise, administrativer und militärischer Macht gelang es den akademischen Historikern oft, sich lokale Geschichtsressourcen anzueignen und die praktischen Zugriffsmöglichkeiten und Deutungen der Akteure und Akteurinnen vor Ort einzuschränken. Es zeigte sich, dass die institutionalisierte Geschichtswissenschaft ihre Interessen in handfesterer Verbindung mit politischen Machtträgern durchsetzte, als dies eine Geschichte historischer Ideen vermuten liesse.