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Die Dissertation von André Utzinger erörtert den kausalen Zusammenhang zwischen der Bildung politischer Institutionen einerseits und der Formation kollektiver Identität anderseits. Das Ziel dieser interdisziplinären Arbeit besteht nebst der Entwicklung eines allgemeingültigen theoretischen Ansatzes vor allem darin, einen klärenden Beitrag zur virulenten Debatte um eine europäische Identität zu leisten. Insbesondere wird die oft vertretene Meinung, wonach die politisch-rechtliche Integration zum Scheitern verurteilt sei, solange es kein homogenes europäisches Volk gäbe (die so genannte «no-demos thesis»), kritisch hinterfragt.
Im ersten Teil der Dissertation wird mit Rückgriff auf die Philosophie des Amerikanischen Pragmatismus ein Konzept von Identität entwickelt, welches als sozial, prozedural und funktional charakterisiert werden kann. Kollektive Identitäten sind im Wesentlichen das Resultat erfolgreicher und wiederholter sozialer Interaktionen, in deren Verlauf die Menschen ihre umfassenden Bedürfnisse nach physischer und psychischer Sicherheit befriedigen. Dieses Konzept aus der Sozialpsychologie wird im zweiten Teil der Abhandlung mit Denkmodellen der politischen Theorie und der politischen Philosophie systematisch verknüpft. Dabei wird gezeigt, wie dieselben Funktionen, welche für den Prozess der Identitätsbildung massgeblich sind, zu einem guten Teil durch politische Institutionen erbracht werden. Beispielhaft sei das Konzept der Rechtsstaatlichkeit («rule of law») erwähnt, welches den Menschen Sicherheit und Autonomie garantiert und damit eine emotionale Bindung an die Körperschaft des Staates ermöglicht.
Das primäre Forschungsergebnis kann sodann wie folgt zusammengefasst werden: Politisch-juridische Institutionen und kollektive Identitäten stehen in einem funktionalen Zusammenhang, der seinerseits zu einer sozio-strukturellen Affinität und zu einer gegenseitigen Reproduktion zwischen Institutionen und Identitäten führt. Dass dabei die zweckrationale Institutionenbildung der sozio-psychologischen Identitätsbildung tendenziell vorangeht, kann durch die Analyse gesellschaftlicher Krisensituationen verdeutlicht werden.
Im letzten Teil der Arbeit wird diese allgemeine Theorie auf den spezifischen Fall der europäischen Integration angewandt. Zunächst wird die politische und rechtliche Struktur der Europäischen Union analysiert und ihre Funktionalität im Kontext politischer, wirtschaftlicher und soziologischer Globalisierung gewürdigt. Schliesslich wird demonstriert, wie sich dank dieser institutionellen Strukturen eine genuin europäische Identität herausbilden kann und wie diese im Verhältnis zu bestehenden nationalen Identitäten gedeutet werden muss. Das sich konstituierende europäische Volk wird eine multiple und polyzentrische Identität besitzen und die nationalen Identitäten nicht einfach ersetzen. Vor allem aber lässt sich auch in diesem Szenario exemplarisch nachweisen, dass die gemeinsame Identität beziehungsweise das «Wir»-Gefühl der Bürger Europas logisch und zeitlich der Bildung europäischer politischer Institutionen nicht vorauszugehen braucht – vielmehr ist die kollektive Identität der Bevölkerung das Resultat erfolgreicher politisch-rechtlicher Institutionalisierung. Die weit verbreitete «no-demos thesis» ist somit im Kern widerlegt.