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NZZ, 25. September 2021, Interview: Nils Pfändler und Daniel Fritzsche
Seit dieser Woche gilt auch an der Universität Zürich für alle Studenten die Zertifikatspflicht. Der Rektor Michael Schaepman sieht den Schritt kritisch und verteidigt im Gespräch mit Nils Pfändler und Daniel Fritzsche das Recht auf Bildung.
Herr Schaepman, Sie haben kurz vor dem Semesterstart eine Zertifikatspflicht eingeführt. Ist Ihnen dieser Schritt leichtgefallen?
Die Entscheidung war extrem schwierig. Wir hätten uns eine andere Variante gewünscht.
Nämlich?
Wir sind lange davon ausgegangen, dass der Bund einen vollen Präsenzbetrieb ohne Zertifikat, dafür mit Maske zulässt. Leider kam es anders.
Sie wurden auf dem falschen Fuss erwischt.
Aus meiner Sicht wurde ohne sehr detaillierte Vernehmlassung entschieden, ohne dass wir als direkt betroffene und grösste Volluniversität der Schweiz involviert worden sind. Daher die Überraschung. Wir mussten sehr schnell reagieren.
Gab es für Sie keine Alternative zur Zertifikatspflicht?
Für uns war der Entscheid alternativlos. Die Hörsäle nur zu zwei Dritteln zu füllen, wie das auch erlaubt wäre, ist für die Universität Zürich völlig unrealistisch. Wir haben Hörsäle, die regelmässig zu 105 Prozent belegt sind. Auch reiner OnlineUnterricht ist mittelfristig für die Studierenden kein gangbarer Weg. Das haben die letzten drei Semester gezeigt. Es blieb also nur noch die Zertifikatspflicht übrig.
Weshalb sehen Sie die Pflicht kritisch?
Eine Zertifikatspflicht im Restaurant oder im Kino ist das eine. Da geht es um Freizeitaktivitäten. Eine Hochschule muss aber sicherstellen, dass Bildung für alle zugänglich ist. Das Recht auf Bildung ist hoch zu gewichten und darf nicht untergraben werden.
Auch einige Studierende stören sich an der Zertifikatspflicht. Zum Semesterstart gab es eine kleine Demonstration. Haben Sie Verständnis?
Ja – die Meinungsfreiheit gilt auch für Demonstrierende vor unseren Gebäuden. Wir bieten bis auf weiteres die Möglichkeit an, sich gratis testen zu lassen. Bei manchen, die sich bisher nicht haben impfen lassen, hat das auch praktische Gründe: Viele Studierende kommen aus dem Ausland oder sind erst seit kurzem in Zürich. Sie müssen sich zuerst arrangieren.
Finden Sie es gut, dass der Bund die Testkosten noch bis am 10. Oktober übernimmt und danach bis Ende November nur noch für einfach geimpfte Personen?
Die grössten Rohstoffe der Schweiz sind Bildung und Forschung. Unsere Aufgabe ist es, Personen auszubilden, welche die Zukunftsfähigkeit der Schweiz garantieren. Deshalb hätte ich es begrüsst, wenn der Bund diese Kosten übernommen hätte, solange die Zertifikatspflicht an den Hochschulen gilt.
Wie beurteilen Sie die gegenwärtige Corona-Politik?
Ich glaube, die Schweiz braucht ein klares Impfziel. In einer Krise auf ein Ziel hinzuarbeiten, ist viel einfacher, als die Gegenwart zu regulieren und aufgrund aktueller Ansteckungszahlen kurzfristige Massnahmen zu verhängen.
Wie könnte dieses Ziel aussehen?
Dänemark hat bei einer Impfquote von 80 Prozent alle Massnahmen aufgehoben. In der Schweiz fehlt ein solches Impfziel. Das ist ein Problem. Es gibt Ausstiegsszenarien, auf Basis von verschiedenen Indikatoren. Aber ich glaube, die Menschen können damit nicht viel anfangen. Es wäre am einfachsten, wenn wir sagen würden: Bei einer Impfquote von so und so viel Prozent steigen wir aus. Dann ist die Pandemie beendet.
Sie wünschen sich mehr Transparenz.
Die Menschen werden skeptisch, wenn wenn sie das Gefühl haben, dass etwas verheimlicht wird. Mit der Zertifikatspflicht und dem Wegfallen der Übernahme der Kosten für Gratistests entsteht ein verstärkter Impfdruck. Das halte ich für problematisch. Die Behörden sollten offener ein erreichbares Ziel kommunizieren.
Wie waren die Reaktionen nach dem Entscheid, die Zertifikatspflicht einzuführen?
Wir haben mehrere hundert E-Mails erhalten, in denen Angehörige der Universität ihre Besorgnis ausdrücken. Für manche sind die Massnahmen zu einschneidend, für andere reichen sie zu wenig weit.
Gibt es auch Studenten, die aus Protest ihr Studium beendet haben?
Wir haben fast 30 000 Studierende an der Universität Zürich. Sie vertreten sämtliche Meinungen aus dem gesamten Spektrum, vom einen Extrem bis zum anderen. Ich kann Ihnen allerdings nicht sagen, wie diese Meinungen verteilt sind.
Ist die Zertifikatspflicht überhaupt alltagstauglich für alle Studierenden? Die Schlange vor dem Testzentrum im Uni-Hauptgebäude war vorhin ziemlich lang.
Wir haben so viele Kapazitäten aufgebaut wie möglich in dieser kurzen Zeit. Ich vermute, dass sich ein grösserer Teil dieser Studierenden noch impfen lassen wird. Dann werden wir in vier Wochen eine Beruhigung sehen. Ich hoffe sowieso, dass wir bald eine so hohe Impfquote haben werden, dass es möglich ist, die Zertifikatspflicht abzuschaffen.
Wie lässt sich die Situation sonst noch entspannen?
Uns wäre es ein riesiges Anliegen, wenn wir vermehrt Pool-Tests machen und bei einem negativen Ergebnis allen Testpersonen eines Pools ein Zertifikat ausstellen könnten. Der Bund erwägt ja, schweiz-weit PCR-Pool-Tests zu koordinieren. Das wäre eine riesige Hilfe, weil es das Testen vereinfachen und beschleunigen würde.
Bei den Kontrollen der Zertifikate setzt die Universität auf Stichproben. Diese sind laut dem BAG aber nicht zulässig. Wie kann es in einer so heiklen Situation zu einer solchen Verwirrung kommen?
Wir haben das nicht guerillamässig entschieden, sondern in Abstimmung mit anderen Hochschulen und Swissuniversities. Der Kanton hat unser Vorgehen akzeptiert. In 30 Prozent der kleinen und mittleren Vorlesungen werden bereits alle Anwesenden kontrolliert. Viele Dozierende haben mir zudem die Rückmeldung gegeben, dass auch sie Studierende kontrollieren. Zusätzlich haben wir Sicherheitspersonal eingestellt, welches durch die Universität patrouilliert und vor den Hörsälen positioniert ist. Unser Stichprobenverfahren ist damit hinreichend und regelmässig, wie eben gefordert.
Ist es nicht ein enormer Mehraufwand für die Dozierenden, wenn sie auch noch Kontrolleure spielen müssen?
Ich mache immer einen einfachen Vergleich: Der Tramchauffeur hat das Recht, im Tram die Billette zu kontrollieren. Aber seine Aufgabe ist es, das Tram zu fahren. Unsere Dozierende haben das Recht, die Studierenden zu kontrollieren. Aber in erster Linie müssen sie die Vorlesung halten und Bildung vermitteln. Dafür sind sie angestellt, nicht, um Zertifikate zu überprüfen. Das gilt übrigens auch für unsere Doktorierenden und den Mittelbau.
Wäre in Ihren Augen eine flächendeckende Kontrolle übertrieben?
Ja. Wir haben eine sehr hohe Rate an Studierenden, die sehr vernünftig sind und reflektiert handeln. Die meisten sind geimpft, letztlich reden wir von einer verschwindend kleinen Menge an möglichen Verstössen.
Wie hoch ist die Impfquote an der Universität Zürich?
Wohl zwischen 80 und 90 Prozent. Wir haben 2000 Personen befragt, die Umfrage muss aber noch validiert werden. Sicher ist, dass die Impfquote stetig steigt.
Wie wichtig ist Präsenzunterricht überhaupt für eine Universität?
Kooperation und gemeinschaftliches Arbeiten sind wohl die wichtigsten Fähigkeiten junger Menschen für den zukünftigen Arbeitsmarkt. Diese Kompetenzen konnten wir in den letzten eineinhalb Jahren kaum vermitteln. Intensive Diskussionen und Auseinandersetzungen können über Zoom nicht stattfinden. Darum ist es wichtig, dass wir uns wieder im echten Leben treffen.
Viele haben aber auch die Vorteile der digitalen Lehre schätzen gelernt. Sind Online-Studiengänge nicht die Zukunft? So liessen sich auch Kosten sparen.
Wenn man willens ist, eine massive Einbusse in der sozialen Interaktion und der Netzwerkbildung hinzunehmen, dann schon. Ich glaube aber, das ist der falsche Weg. Die Präsenzlehre ist der Kern unserer Ausbildung. Wir werden immer Hörsäle und Begegnungsräume brauchen.
Das führt aber notgedrungen zu einem Platzproblem.
Tatsächlich haben wir ein stetiges Wachstum der Studierendenzahlen – und es ist kein Ende in Sicht. Das bereitet uns Kopfzerbrechen, trotzdem würde ich das Wachstum nicht künstlich einschränken wollen, etwa durch eine tiefere Maturitätsquote.
Wie lösen Sie denn das Problem?
Wir brauchen mehr Platz, aber auch mehr Konzentration. Heute sind wir auf 244 Liegenschaften verteilt. Für das Management und die Effizienz ist diese Verzettelung ein Problem. Das geplante Forum UZH der Architekten Herzog & de Meuron im Hochschulgebiet wird eine Konsolidierung ermöglichen. Wir werden einige Immobilien zu Wohnräumen rückführen können. Zudem bin ich sicher, dass die Lehre künftig vermehrt hybrid stattfinden wird, mit einem Teil Präsenzunterricht und digitalen Komponenten. Darum haben wir entschieden, im neuen Forum einige grosse Hörsäle zu verkleinern.
Die Wissenschaft war selten so präsent in der Politik und in den Medien wie während der Corona-Krise. War das eine gute Entwicklung?
Die Wissenschaft geht sicher gestärkt aus dieser Pandemie hervor. Für die Öffentlichkeit mögen die Meinungsverschiedenheiten unter Forschern oder Studienrichtungen manchmal zwar etwas beunruhigend gewesen sein, am Ende lagen aber immer sehr viele qualifizierte Expertisen auf dem Tisch. Die Wissenschaft ist aus dem Elfenbeinturm gestiegen.
Es prasselte aber auch Kritik auf die Wissenschaft ein. Etwa auf die Covid19-Task-Force des Bundes.
Die Bevölkerung hätte sich wohl mehr kohärente Kommunikation gewünscht. Manche haben sofort Lösungen erwartet, und stattdessen wurden verschiedene Meinungen präsentiert. Die Meinungsbildung in der Bevölkerung hat deswegen sowohl qualitativ wie auch quantitativ zugenommen. Das ist ein Gewinn für alle Seiten.
Hat die Pandemie die Forschung nachhaltig verändert?
Den Forscherinnen und Forschern ist bewusst geworden, wie agil sie sein können – von den Sozialwissenschaftern, die Umfragen über die Folgen des Lockdowns gemacht haben, bis hin zu den Medizinern, die grosse Fortschritte mit potenziell wirksamen Medikamenten erzielt haben, welche bereits zugelassene Wirkstoffe zur Behandlung von Patienten haben. Wir haben auch gesehen, wie viel Vorleistung wir schon erbracht hatten. Das gilt im Übrigen nicht nur für die Universität Zürich. Wäre nicht schon zwanzig Jahre an der mRNA-Technik geforscht worden, hätte man den Impfstoff gar nie so schnell auf den Markt bringen können.
Neben der Pandemie dürfte Sie in den letzten Monaten das Scheitern des Rahmenabkommens beschäftigt haben. Bundesrat Guy Parmelin sagte letzte Woche, dass in den Verhandlungen um die Teilnahme am Forschungsprogramm «Horizon Europe» noch «alles offen» sei. Teilen Sie seine Gelassenheit?
Ich bin vermutlich viel nervöser als Herr Parmelin in dieser Angelegenheit. Für uns geht es bei «Horizon Europe» um Reputation, Exzellenz und Geld. Wir laufen Gefahr, unsere Spitzenposition zu gefährden. Und wir haben weniger Drittmitteleinkommen. Ohne Ersatzmassnahmen oder eine vollständige Assoziierung werden wir früher oder später Sparmassnahmen ergreifen müssen. Gelassen bin ich also auf keinen Fall. Es steht viel auf dem Spiel. Das Scheitern des Rahmenabkommens hat vieles komplizierter gemacht.
Sie hatten einen denkbar schwierigen Start in Ihre Zeit als Rektor. Haben Sie sich Ihr erstes Jahr anders vorgestellt?
Klar, die Pandemie und das gescheiterte Rahmenabkommen sind massive Zusatzbelastungen. Aber weil wir derart viele Experten im Haus haben, ist es für mich auch eine grosse Genugtuung, so zu arbeiten. Wenn ich etwas nicht weiss, kann ich unsere Politikwissenschafterinnen, Juristinnen oder Medizinerinnen fragen. Ich lerne jeden Tag etwas dazu. Das ist ein grosses Privileg.