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«Uns fehlt jedes Jahr ein zweistelliger Millionenbetrag»

NZZ am Sonntag, 22. April 2023, Interview: René Donzé

Der Rektor der grössten Schweizer Universität, Michael Schaepman, kritisiert die Sparpläne des Bundes. «Uns fehlt jedes Jahr ein zweistelliger Millionenbetrag», sagt er.

Herr Schaepman, eigentlich wollte ich mit Ihnen über das Wachstum der Universität Zürich sprechen, doch nun sehe ich in den aktuellen Zahlen, dass sie 2022 geschrumpft ist. Was ist passiert?
Der Eindruck täuscht. Der minime Rückgang der Studierendenzahl ist nur vorübergehend. Es ist ein Kompensationseffekt, weil wir zuvor wegen Corona einen sehr starken Anstieg hatten. Aber langfristig zeigt die Kurve nach oben.

Corona war für die Uni also eine Art Booster?
So gesehen schon. In unsicheren Zeiten kommen mehr Studierende an die Uni, und sie bleiben ihr eher treu.

Und das hat sich jetzt wieder geändert?
Ja, in verschiedener Hinsicht: Der Wettkampf um Fachkräfte ist wieder da und gleichzeitig sind wir nach einer kurzen Delle wieder zurück auf unserem normalen Wachstumspfad. Und der ist beträchtlich. Wir rechnen mit einem Wachstum der Studierendenzahl von rund 2,2 Prozent pro Jahr. Das ist mehr als die vom Bund für die Schweizer Universitäten prognostizierten 1,5 Prozent.

Diese Nachfrage dürfte Sie als Rektor der grössten Schweizer Universität stolz machen.
Natürlich ist es schön, dass wir beliebt sind. Das liegt auch daran, dass Zürich generell für Studierende attraktiv ist. Dies auch dank der ETH, den Fachhochschulen und der Hochschule der Künste. Doch die 2,2 Prozent bedeuten für uns rund 600 zusätzliche Studierende pro Jahr. Für diese braucht es mehr Räumlichkeiten, mehr Personal und mehr Forschung. Wir stossen überall an unsere Grenzen.

Erst vor wenigen Tagen hat der Zürcher Kantonsrat 600 Millionen Franken bewilligt für einen Uni-Neubau der Stararchitekten Herzog und de Meuron im Stadtzentrum. Reicht das nicht?
Das ist eine sehr wertvolle Erweiterung. Allerdings muss man sie ins richtige Licht rücken. Wir erhalten dadurch 37 000 Quadratmeter neue Nutzfläche. Im Gegenzug müssen wir jedoch Wohnraum, den wir bisher genutzt haben, dem Kanton zurückgeben. Effektiv gewinnen wir mit dem Neubau ab 2029 bloss rund 18 000 Quadratmeter. Wir müssen aber im Durchschnitt pro Jahr zusätzlich rund 5000 Quadratmeter dazumieten.

Dann ist der Bau also bloss ein Tropfen auf den heissen Stein?
Das kann man so sehen, aber ein ganz grosser und wichtiger – aus städtebaulicher und betrieblicher Sicht.

Nun will der Bund wegen seines Defizits bei der Bildung sparen. Wie wirkt sich das auf Ihr Budget aus?
Noch befinden sich die Sparvorschläge in der Vernehmlassung. Doch wenn es kommt, wie der Bund vorschlägt, droht uns ein grosses Loch. Unser Budget müsste jährlich um rund 3,5 Prozent zunehmen, damit wir zusätzlich zum Wachstum auch in zukunftsgerichtete neue Schwerpunkte und Qualität investieren können. Knapp die Hälfte finanziert der Kanton, und dieser Teil ist gekoppelt an unser Wachstum. Bei der anderen Hälfte wird es aber schwierig, weil diese zu einem grossen Teil direkt oder indirekt vom Bund kommt. Uns fehlt jedes Jahr ein zweistelliger Millionenbetrag, wenn alle Finanzierungsquellen an ihren Kürzungen festhalten – einerseits wegen geringerer Beiträge, andererseits wegen steigender Kosten – dies bei einem Gesamtbudget von knapp 1,6 Milliarden Franken.

Sie fordern also mehr Geld?
Nicht unbedingt. Aber der Bund soll an den bisherigen Finanzplänen festhalten und nicht die Sparschraube in der Bildung anziehen. Als grösste Volluniversität des Landes sind wir die grösste Bezügerin von Nationalfonds-Geldern. Wenn hier gespart wird, trifft uns das hart. Vor allem, weil auch noch die EU-Forschungsgelder wegfallen, da die Schweiz nicht bei Horizon Europe assoziiert ist.

Diese EU-Gelder kompensiert der Bund.
Das stimmt, doch erstens kommt es zu grossen Verzögerungen. Und zweitens bezahlt der Bund einen kleineren Anteil an den Overhead, das heisst an die Kosten für Infrastruktur und Administration, als die EU. Das macht für uns einige Millionen Franken aus.

Was bedeutet es denn konkret, wenn die Uni Zürich künftig Millionenbeträge jährlich sparen muss?
Das Betreuungsverhältnis wird sich verschlechtern, das heisst, die Anzahl der Studierenden pro Lehrstuhl nimmt zu. Wir haben die Betreuung aber jetzt schon optimiert, so weit es geht, und weisen das effizienteste Verhältnis aller Schweizer Universitäten auf. Mehr ist nicht möglich ohne Qualitätseinbussen.

Die Universität Zürich hat 28 000 Studierende, wo liegt die Grenze des Wachstums?
Internationale Vergleiche zeigen, dass Universitäten mit über 100 000 Studierenden eine kritische Grösse erreicht haben und ihr Impact auf die Forschung nicht mehr signifikant wächst. So weit sind wir noch lange nicht. Klar ist aber, dass wir nicht mehr so stark in die thematische Breite wachsen können. Wir sollten daher überlegen, welche Optionen wir haben – dazu gehört auch die Variante einer zweiten Universität, die komplementäre Studiengänge anbietet.

Eine Art B-Universität?
Auf keinen Fall, aber eine Universität für Studiengänge, die nicht zwingend eine Volluniversität brauchen. Es ist mir wichtig, die heutige Qualität der Forschung und Lehre hoch zu halten, und da gibt es bestimmte quantitative Limiten. Wir müssen uns sehr gut überlegen, wie stark wir noch diversifizieren können. Wenn die Zahl der Studiengänge zunimmt und die Zahl der Studierenden ebenfalls, brauchen wir immer auch die adäquate Forschung dazu.

Wie halten Sie es eigentlich mit der Gymiquote? Im Kanton Zürich ist diese recht restriktiv und verhindert, dass noch mehr junge Leute an die Universität strömen.
Der Druck auf die Hochschulen wächst, weil die Bevölkerung wächst und immer akademischer wird. Ich bin froh, dass mit solchen Massnahmen der Zustrom etwas gedrosselt wird. Doch sie sind auch ungerecht, da nicht unbedingt nur die Geeignetsten eine Matura machen, sondern vor allem Kinder aus bildungsnahen Familien. Mir ist Diversität wichtig, auch bezüglich Herkunft und Hintergrund. Dazu gibt es verschiedene Lösungswege und laufende Diskussionen. Wichtig ist vor allem, dass intrinsisch motivierte Studierende zu uns kommen.

Wird dies mit unserem System erreicht?
Ich bin nicht sicher, ob die Gymiprüfung die beste Selektion fürs Studium ist. Zumal diese sehr früh erfolgt und der Erfolg sehr stark abhängig ist von der Unterstützung durch die Eltern. Eine höhere Gymiquote würde die Verantwortung von den Mittelschulen zu uns verlagern, wir müssten mehr selektionieren. Ich bin in dieser Frage ambivalent, da dies zu mehr Studierenden, schlechterem Betreuungsverhältnis und mehr Drop-outs führen würde.

Sie haben in dieser Zeitung vor zwei Jahren die Idee lanciert, dass auch Personen ohne Maturität an der Universität studieren sollen. Das würde das Problem der sozialen Selektion ein Stück weit lösen. Wo stehen Sie diesbezüglich?
Wir sind daran, die Universität der Zukunft zu entwickeln. Diese umfasst neben den klassischen Studiengängen und der Weiterbildung auch sogenannte Micro-Credentials. Das heisst, man besucht einzelne oder Gruppen von Vorlesungen und absolviert Prüfungen, die man für sich zusammenstellt. Für den technischen Teil lancieren wir gerade ein Experiment – eine elektronische Lösung, in die jede einzelne Vorlesung und Prüfung eingetragen wird. Das ergibt einen individuellen Ausweis dessen, was man an der Universität besucht hat. Eine offene Diskussion ist, ob auch Personen ohne Matura dazu Zugang haben sollten.

Wie realistisch ist das?
Einzelne Vorlesungen können heute schon alle besuchen. Ob Personen ohne Matura jedoch auch universitäre Zertifikate erhalten dürfen, ist eine Diskussion, welche durch unser Interview vor zwei Jahren lanciert wurde. Ich bin der Meinung, dass Erwachsene selbst entscheiden können, was für sie gut und richtig ist, unabhängig von einem einmal erlangten Ausweis. Das verschiebt die Verantwortung von den Ausbildenden hin zu den Auszubildenden.

Neue Ideen haben Sie, doch wäre es nicht an der Zeit, einmal alte Zöpfe abzuschneiden? Das würde ja helfen, dass die Uni nicht aus allen Nähten platzt.
Die Frage ist, welcher Zopf alt ist. Hätten Sie Albert Einstein 1920 gefragt, ob er glaubt, dass die Biologie je einmal bedeutender werde in Bezug auf das Forschungsvolumen als die Physik, hätte er wohl vehement verneint. Heute ist das so. Es gibt keine Kristallkugel, die sagt, was in Zukunft wichtig sein wird. Wegen des Krieges in der Ukraine hat plötzlich die Geschichte viel mehr Bedeutung erhalten. Und im Zusammenhang mit Chinas wachsendem Einfluss wird Sinologie immer wichtiger. Man darf Bildung nicht ökonomisieren und nur den gegenwärtigen Nutzen vor Augen haben. Darum käme mir auch kein Studiengang in den Sinn, den wir einstellen könnten.

Zum Beispiel nimmt die Bedeutung der Theologie ab, da nur noch die Hälfte der Schweizer Bevölkerung einer christlichen Landeskirche angehört.
Obwohl sich die Rolle der christlichen Kirche ändert, bleiben Religionswissenschaften wichtig. Auch wegen all der ethischen Fragen, zum Beispiel in der Medizin im Zusammenhang mit Palliative Care. Das Beispiel zeigt: Heute wird generell viel öfter auch über die Fakultäten hinaus zusammengearbeitet, die Interdisziplinarität bei Studiengängen und Forschungsthemen nimmt zu.

Das vernetzte Denken ist das Einzige, was bleibt in einer Welt, in der die künstliche Intelligenz zunehmend Routinearbeit übernimmt.
Vernetztes Denken und soziale Interaktion werden garantiert noch weiter an Bedeutung gewinnen. Corona hat uns aufgezeigt, wo die Grenzen der Digitalisierung sind. Der Mensch ist viel sozialer, als wir vielleicht gedacht haben. Genau deswegen wird es immer eine Präsenzuniversität brauchen, wo sich die Menschen begegnen können.