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6. Juli 2022
Sie wissen es vielleicht. Das allgemein akzeptierte Reden-Repertoire für Maturafeiern ist stark begrenzt. Unser Bundeskanzler Walter Turnherr hat sich in seiner humorvollen Maturarede für die Kanti Glaurs ja darüber beschwert, dass diese Art von Reden meist von einem mauschelnden akademischen Würdenträger gehalten werden, der nichts anderes tut als Unterweisungen in Lebens– und Karriereplanung zu geben. Für mich als Akademiker und Universitätsrektor stehen damit eigentlich nur zwei Varianten zur Auswahl, und zusätzlich kommt eine inhaltliche Vorgabe dazu.
Ich beginne mit der inhaltlichen Vorgabe. Nach Massgabe unserer Kinder, die 18 und 20 Jahre alt sind – Eines studiert seit einem Jahr an der ETH, das Andere ist im letzten Jahrgang vor der Matura am RG – habe ich das Inhaltliche mit ihnen abgesprochen. Sie hatten eben verlangt, dass ich auf keinen Fall peinlich sein darf. Es gibt heute also Inhalte ohne Peinlichkeiten.
Doch nun zu den zwei Varianten der Maturareden. Erstens: Ich werde hier und heute meiner Rolle als Akademiker gerecht. Die Rede beginne ich in diesem Fall mit einem Zitat, das in der Regel von einem weisen, weissen, längst verstorbenen Mann stammt. Da bietet sich Aristoteles an: «Es ist das Kennzeichen eines gebildeten Geistes, einen Gedanken unterhalten zu können, ohne ihn zu akzeptieren.» Was für ein pompöser Auftakt! Aber bitte: Sie, liebe Maturandinnen und Maturanden haben das Zitat bereits verinnerlicht, analysiert, eingeordnet und auf ihrem Handy die neuste Version von König’s Erläuterungen dafür bestellt, währenddem ich den Satz für unsere Alterskategorie wohl noch einmal wiederholen sollte. Was ich nun aber nicht tun werde.
Wäre ich nun Philosoph oder Historiker der Antike, würde ich wahrscheinlich dieses Zitat wählen und Ihnen 60 Minuten lang einen Vortrag über die Bedeutung der Bildung in unserer Wissensgesellschaft halten und meine Rede gänzlich um dieses Zitat herumbiegen – solange, bis Sie denken: «so wissend wäre ich auch einmal gerne.» Ich bin aber Geograph, Sie dürfen aufatmen.
In der zweiten, ebenfalls oft bemühten Variante rede ich zu Ihnen als Würdenträger. Die Rede beginnt dann so: «Liebe Maturandinnen und Maturanden, lassen Sie mich das allerwichtigste gleich vorwegnehmen: Jetzt fängt der Ernst des Lebens an.» In dieser Rede ermahne ich Sie eindringlich, dass Sie es im Leben nur mit eiserner Disziplin sowie mit einem Karriere-Masterplan zu etwas bringen werden. Und dass Sie nun zur Elite des Landes gehören und Verantwortung für sich und die Gesellschaft übernehmen müssen. Das Leben, welches da draussen auf Sie wartet, würde ich in der Folge so grausam beschreiben, dass Sie die schützenden Räume dieser Kirche am liebsten gar nicht mehr verlassen möchten.
Ich flechte in diese Rede daher auch gerne eigene Erfahrungen aus meiner Schulzeit an der Hohen Promenade mit ein. Darum ist (es wohl) jetzt der richtige Zeitpunkt, Ihnen mitzuteilen, dass ich die 6. Klasse an der HoPro repetiert habe. Sie hören richtig: ein halbes Jahr vor der Matur habe ich eine Ehrenrunde an der HoPro gedreht. Unsere Tochter fand dies übrigens die wichtigste Botschaft von mir an Sie heute. Sollten Sie meinen Erfahrungsberichten nicht trauen, dann können René Aellen, Dominique Belvedere und eventuell Frau Schlesinger diese bestätigen. Immerhin habe ich doch noch zwei bis drei Lehrpersonen auf der Liste der LehrerInnen an der HoPro gefunden, welche bei meiner Matur 1986 schon mit dabei waren.
Nun gut. Damit wäre der Einstieg erledigt und auch äusserst gelungen: Sie sind gelangweilt, weil ich Ihnen von wegen Ernst des Lebens das Gleiche predige wie Ihre Eltern. Ich hingegen fühle mich viel besser, weil ich ihnen diverse Peinlichkeiten dank dem guten Rat unserer Kinder ersparen konnte.
Kommen wir also zum Hauptteil. Oder um es mit Ovomaltine zu sagen: die Rede wird nicht besser, aber länger!
Liebe Maturandinnen und Maturanden, Sie sind heute hier, weil Sie alle erfolgreich die Maturitätsprüfung bestanden haben. Zu Ihrem Abschluss gratuliere ich Ihnen von ganzem Herzen. Auf die geleistete Arbeit, insbesondere auch auf den erbrachten Kraftakt während der Prüfungszeit, dürfen Sie stolz sein. Im Wissen darum, dass Ihnen das Leben diese Feier nur einmal bescheren wird, wünsche ich Ihnen, dass Sie es umso mehr geniessen. Heute geht es darum, Ihren Erfolg gebührend zu feiern, und einzig und allein darum.
Dass Sie überhaupt eine Maturfeier begehen dürfen, ist keine Selbstverständlichkeit. Und wenn Sie nun von mir erwarten, dass ich die Schule wegen Ihrer Corona-Massnahmen lobe und berichte, wie ein vergangener Jahrgang ohne Maturfeier an die Uni gekommen ist, dann täuschen Sie sich. Denn bereits 1986 – als ich es dann also auch geschafft habe – wurde die Maturfeier wegen der Scherze der MaturandInnen auf ein Minimum begrenzt. Vier der massgeblich Beteiligten von damals sind heute übrigens Professorinnen und Professoren an der Uni Zürich.
Doch nun zu Ihrer Schulzeit. Sie haben bereits mehr als die neun Jahre obligatorische Schulpflicht hinter sich. Das ist eine sehr lange Zeit in einem noch sehr jungen Leben. Was hat diese lange Schulzeit eigentlich mit Ihnen gemacht? Sie haben sicher einerseits eine Unmenge an Wissen aufgenommen und verinnerlicht. Andererseits haben Sie ihre Freizeit so um die Schule herum optimiert, dass Sie immer ganztags, während 24 Stunden, beschäftigt sind. «Bist Du sicher, dass Du nicht mehr für die Prüfung morgen lernen musst?» haben Sie zu Hause wohl öfter gehört als «Bitte hilf doch etwas mehr im Haushalt». Und darüber hinaus können Sie alle heute so schnell wie nie mehr im Leben Notendurschnitte zwischen 1 bis 6 auf drei Stellen genau hinter dem Komma pro Fach ausrechnen, auf– und abrunden, und jeweils gleichzeitig alle Minuspunkte im Kopf doppelt kompensieren.
Vor ein paar Jahren haben mich unsere Kinder gefragt, ob Sie mein Maturzeugnis sehen dürfen. Ich denke nicht, dass es ein Fehler von mir war, ihnen dieses zu zeigen. Aber auf meine Aufforderung hin, doch noch etwas mehr für die morgige Prüfung zu lernen, kommt seither nur noch eine Standardantwort von ihnen: «Du warst im Schnitt nie so gut wie ich». Ich habe die Matur mit zwei Bestnoten in Physik und Geographie bestanden, aber gleichzeitig auch die gesamte Notenskala – insbesondere nach unten – ausgenutzt und sie mit einer Punktlandung ohne jegliche Reserven geschafft.
In der Primarschule – vielleicht erinnern Sie sich noch – wurden Sie praktisch rund um die Uhr von den Lehrpersonen betreut. Hier am Gymnasium waren Sie schon viel mehr auf sich allein gestellt. Sie mussten insbesondere in der Abschlussphase den Lernprozess selbständig gestalten. Täglich standen einschneidende Entscheidungen an: gehe ich heute in die Badi oder mache ich doch besser noch ein paar Integralrechnungen?
Wenn wir schon bei Entscheidungen sind. Als Schülerinnen und Schüler haben wir damals auch immer selbst ein bisschen entschieden, wie wir den Unterricht mitgestalten wollen. Das erinnert mich an Herrn Zürcher.
Herr Zürcher war in der Biologie an der HoPro eine Legende. Da ja alle in der Biologie sowieso einen Fensterplatz hatten, musste also die Legendenbildung für exzellenten Unterricht herhalten. Zu Beginn der ersten Anatomiestunde wurde also das allseits bekannte Skelett des Menschen in das Schulzimmer gerollt. Das Gebiss war mit einer Feder gut vorgespannt und wir konnten natürlich nicht umhin, dem Skelett eine brennende Zigarette ins Gebiss zu klemmen und gespannt zu warten, was Herr Zürcher wohl sagen würde. Herr Zürcher kam mit verbundenen Augen ins Schulzimmer und sagte ohne die Miene zu verziehen: «bitte nehmen Sie dem Skelett die Zigarette aus dem Gebiss». Es traf uns schon damals wie ein Blitz, wenn eine Lehrerin oder ein Lehrer origineller und gewiefter war als wir Schülerinnen und Schüler. An Herrn Zürcher kann ich mich bis heute noch sehr gut erinnern, auch wenn die Biologie erst nach meinem Doktorat für mich an Bedeutung gewonnen hat!
Statistisch kann ich Ihnen versichern, dass praktisch alle von Ihnen in absehbarer Zeit ein Studium an einer Hochschule aufnehmen werden.1 Dann spielt Selbständigkeit eine noch wichtigere Rolle. Wenn Sie mit 400 weiteren Studierenden im Hörsaal sitzen, wird es mit der persönlichen Betreuung eindeutig schwierig. Sie werden Verantwortung übernehmen und Studium, Arbeitszeit sowie Freizeit komplett autonom gestalten. Dabei lege ich besonders viel Wert auf die Tatsache, dass Sie das Mass der sozialen Interaktion selbst bestimmen. Denn ohne diese wäre die Uni Zürich schon längst eine Fernuniversität geworden: der Mensch ist ein soziales Wesen und braucht Interaktion.
Wenn diese Feier vorbei ist, und Sie dann wieder auf dem Boden der Realität angekommen sind, fragen Sie sich: wie geht es nun weiter und was bringt mir dieses Maturitätszeugnis? Als erstes kann ich Ihnen versichern: Ihre Noten werden in der Schweiz nie gebraucht – sonst würde ich vermutlich heute nicht hier stehen. Also: bestanden ist bestanden. Das gilt für die Aufnahme an alle Unis in der Schweiz.
Auch Ihnen, liebe Eltern, kann ich Eines versichern. Obschon es prominent in allen Tageszeitungen steht und diskutiert wird: Kiffende Studierende, welche die Regelstudienzeit nicht einhalten, Jahre länger als vorgesehen studieren und zu guter Letzt auch noch keine Arbeit finden, ist eine ‘urban legend’. Der Fachkräftemangel schlägt mittlerweile überall zu, wird sich weiter verstärken und die Karriereoptionen sind mannigfaltig! Lassen Sie sich also Ihre Kinder nicht schlechtreden und reden Sie Ihre Kinder nicht schlecht. Jedes Studium ist zielführend.
Ich habe vorhin gesagt, dass die meisten von Ihnen an eine Hochschule gehen werden. Ist also mit der Wahl des Studiengangs die Zukunft schon vorgegeben? Ich meine, Nein. Der Entscheid Wirtschaft, Chemie oder Literaturwissenschaften zu studieren, wird natürlich Ihren Werdegang nachhaltig prägen. Er wird Sie aber keinesfalls in eine Einbahnstrasse führen. Statistisch gesehen ist es aber schon so, dass diejenigen, welche inhaltlich nah an ihrem Maturitätsprofil bleiben, die höchsten Abschlusserfolge verzeichnen können.
Dennoch werden Sie immer wieder an Kreuzungen stehen, die Ihnen eine Hand voll Optionen eröffnen. Einige von Ihnen wissen schon lange, was sie studieren möchten und gehen direkt nach den Ferien an die Uni. Andere haben erst einmal genug von Schule und Lernen und lassen sich noch etwas Zeit mit dem Entscheid. Auch hierzu ist spannend zu wissen, dass viele Studierende nicht auf Anhieb das passende Studium finden. Einige von Ihnen – vielleicht auch diejenigen, die jetzt meinen, dass sie sich ganz sicher sind – werden sich umentscheiden, das Fach oder die Hochschule wechseln, oder gar einen ganz anderen Weg einschlagen. Solche Zwischenschritte, die Sie in dem Moment vielleicht als Fehltritte interpretieren werden, sind sinnvolle Erfahrungen, die das Leben spannend machen.2
Nachdem ich selbst zuerst vier Semester Physik mit dem Nebenfach Informatik studiert hatte, habe ich in die Geographie mit Nebenfach Physik und Informatik gewechselt. Damals habe ich laut meiner Eltern von einem Traumberuf in eine brotlose Tätigkeit gewechselt, die nicht viel mehr mit sich bringt als das unnütze Wissen der Namen aller Hauptstädte der Welt: die Postbotengeographie. Dass ich aber in meiner Karriere Projekte mit der ESA und der NASA gemacht habe, ist bis heute schwer mit meiner Ausbildung unter einen Hut zu bringen. Geographen lesen doch Karten.
Und zum Schluss würde ich ja meiner Rolle als Rektor der Universität Zürich nicht gerecht werden, wenn ich auf Werbung für ein Studium an eben dieser Universität verzichten würde. Was kann die Universität Zürich Ihnen bieten? Die UZH ist die grösste Universität der Schweiz. An den sieben Fakultäten sind rund 28'000 Studierende eingeschrieben. An 150 Instituten werden über 100 Studiengänge angeboten und damit hat die UZH das breiteste Angebot an Studienfächern in der Schweiz. Es ist also sicher für alle etwas Passendes dabei, seien Sie ganz herzlich bei uns willkommen. Die UZH ist aber nicht nur gross und vielfältig, sondern auch erfolgsversprechend. Die Abgängerinnen und Abgänger der UZH blicken in eine positive berufliche Zukunft. Alumnae und Alumni der UZH sind auf dem Arbeitsmarkt sehr gefragt und bestens dafür qualifiziert. Ausserdem liegt die Arbeitslosigkeit bei UZH-Absolventinnen und -Absolventen weit unter dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung der Schweiz; das Einkommen hingegen weit über dem Durchschnitt. Zögern Sie bei diesen blendenden Aussichten noch? Ich hoffe aber, dass ich Sie mit dem Lohn-Argument nicht überzeugen kann. Was wirklich zählt, ist das zu machen, wofür Sie eine Leidenschaft und eine Begabung haben. Das wird sich am Ende für Sie auf allen Ebenen am meisten auszahlen.
Zum Schluss nochmals zurück zur Maturfeier 1986. Die Konzertbühne auf dem Sportplatz hatten wir gemietet. Den Strom zogen wir von der Villa Falkenstein über die Strasse, mit Bewilligung von Herrn Beglinger. Die Lärmbewilligung stellte uns die Stadtpolizei Zürich aus. Das Schulhaus war mit Industrieleim zugeklebt, sodass alle am Konzert teilnehmen mussten – immerhin war es gratis für alle. Das Konzert der Schülerbands war am ganzen Zürichberg zu hören. Herr Prorektor Walpen hatte damals eine Abstimmung gegen die Schüler verloren, die Veranstaltung um 10:00 Uhr sofort abzubrechen. Sie war dann mittags zu Ende. Es gab keinen einzigen Sachschaden, keine Beschwerden, dafür aber auch keine Maturafeier – nur eine kurze Ansprache des Rektors in der französischen Kirche. Wir hatten wohl den Goodwill der Schulleitung der HoPro mit dieser Aktion etwas stark strapaziert.
Die HoPro war eine einzigartige Ausbildung für uns alle. An der Uni Zürich treffen sich ab und zu Ehemalige der HoPro und schauen mit Bewunderung auf diese Zeit zurück. Ich hoffe, Sie werden ihre Zeit an der HoPro ebenso respektvoll in Erinnerung halten und mit Stolz das durch Sie und die Schule Erreichte zu würdigen wissen.
Und jetzt erinnere ich Sie nochmals an das eingangs Gesagte: Geniessen Sie diese Feier, freuen Sie sich über Ihren Erfolg und teilen Sie diese Freude mit Ihren Kolleginnen und Kollegen sowie mit Ihren Liebsten.
Ich bedanke mich ganz herzlich für die Einladung, für Ihre Aufmerksamkeit und ich freue mich, wenn ich die eine oder den anderen von Ihnen schon bald auf dem Campus der Universität Zürich wiedersehe.
1 Für Schweiz siehe Bildungsbericht 2018, Kohortenstudie, S. 211: «Von einer Kohorte gymnasialer Maturandinnen und Maturanden treten rund 95% in ein Hochschulstudium über.», siehe auch für Zürich Tabelle S. 14 aus Bericht Hochschulplatz Zürich (ebenfalls über 90%).
2 Aus dem Bericht Hochschulplatz Zürich: Vier von zehn Personen mit einem Studienabbruch nehmen in den vier Jahren nach Studienabbruch erneut ein Hochschulstudium auf. In der Regel an anderer Hochschule. (p. 5), 75% der BA-Studierenden innerhalb 5 Jahren Abschluss, 14% verblieben an Hochschule, 13% brechen Studium ab, Abschlussquote MA bei 95%. Häufigste Gründe für Abbruch: falsche Erwartungen an Studium (63%), unbefriedigende Ausbildungssituation (39%), neu gewecktes Interesse an anderer Ausbildung (32%), p.26.